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Bewusster leben - besser argumentieren!

Während der Weihnachtstage, der höchst emotional geführten Diskussionen um ein Böllerverbot an Silvester und ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen sowie zuletzt bei der „Umweltsau-Debatte“ zeigte sich am Ende des Jahres noch einmal deutlich, dass die Gesellschaft auseinanderzudriften scheint. Die praktische Philosophie könnte soziokulturelle Diskurse begleiten und die Argumente der oppositionellen Lager klar aufschlüsseln – in Nachrichtensendungen oder großen Zeitungen vermisst man allerdings eine populär zugängliche, philosophisch ernstzunehmende Auseinandersetzung mit diesen Diskursen.

Die (sozialen) Medien laufen seit den Weihnachtstagen heiß und die Fronten scheinen verhärtet zu sein. Vegan lebende, oft jüngere, Menschen empören sich über das Unverständnis ihrer Familie, nicht einmal das Bio-Kalb probieren zu wollen. Ihr durch tierethische oder nachhaltigkeitsrelevante Argumente begründeter Veganismus werde ins Lächerliche gezogen, konstatieren viele junge Leute. Es sind häufig dieselben Personen, die sich für ein Böllerverbot an Silvester und ein allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen einsetzen. Privates Feuerwerk und zahlreiche Böller setzen rund 4200 Tonnen Feinstaub im Jahr frei - diese Menge entspricht in etwa 25 % der jährlich durch Holzfeuerungen und ca. 2 % der gesamt freigesetzten Feinstaubmenge in Deutschland, schreibt das Bundesumweltamt in ihrer Publikation „Zum Jahreswechsel: Wenn die Luft ‚zum Schneiden‘ ist“. Darüber hinaus leiden zahlreiche Haustiere und wilde Tiere unter dem Krach der Raketen und Böller. (Von den miserablen Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen, die die Produkte herstellen, wird erst gar nicht gesprochen. Oder hat irgendjemand schon einmal Fairtrade-Böller gesehen?) Auch ein Tempolimit auf der Autobahn wird ähnlich gefordert. Die geringere Umweltlast, weniger auf hohe Geschwindigkeiten zurückzuführende Unfälle und eine Reduktion des Verbrauchs fossiler Brennstoffe werden dabei angeführt. Zuletzt veröffentlichte der WDR ein Satirestück, das einen Auftritt eines Kinderchors beinhaltet: „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad, Motorrad, Motorrad, das sind tausend Liter Super jeden Monat, meine Oma ist ne alte Umweltsau“ wird ein populäres Kinderlied umgedichtet. Damit sollte augenzwinkernd auf die häufig nicht nachhaltige Lebensweise der Kriegsgenerationen und der Baby-Boomer aufmerksam gemacht werden. Daraufhin entwickelte sich eine hitzige Diskussion, in die sich neben dem WDR-Intendanten Tom Buhrow auch Ministerpräsident von NRW Armin Laschet zu Wort meldeten und den Inhalt des Videos scharf kritisierten. Der WDR nahm das Video zwar vom Netz, dennoch ereigneten sich Demonstrationen vor WDR-Bürogebäuden und Morddrohungen an die Autoren des Satirebeitrages. Die Empörung, so zeigte eine Analyse, kam vermehrt aus dem „rechten Ökosystem“.  Geschmackvoll oder nicht – sowas muss Satire dürfen, ohne dass sich die Autor*innen um ihr Leben fürchten müssen!

Auf der anderen Seite wird versucht, Weihnachtstraditionen um die Weihnachtsgans oder den Schweinebraten zu verteidigen. Der Fleischkonsum hat eine hohe emotionale Bedeutung, weswegen der Untergang des Abendlandes befürchtet wird. Auch Raketen und Böller gehören eben dazu, das könne man den Menschen doch nicht einfach wegnehmen, wird hysterisch krakelt. Die Diskussionen um ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen wird ähnlich emotional geführt wie schärfere Waffengesetze in den USA. Was der Revolver für den US-Amerikaner ist, ist die linke Spur für den Deutschen. Dennoch wird auch hier eine Beschneidung der individuellen Freiheit befürchtet und Angst vor einem ‚Verbotsstaat‘ geschürt. Zuletzt wird gegen das Umweltsau-Lied gewettert. Die ältere Generation, die ohne Frage viel durchgemacht hat, anzuschwärzen, sei das Allerletzte und zeugt von mangelndem Respekt. „Leistet ihr erstmal, was eure Großeltern geleistet haben“, werden junge Fridays-For-Future-Aktivist*innen in der Bildzeitung kritisiert. Die zugegebenermaßen häufig polarisierenden „Greta-Anhänger“ werden angegangen, obwohl sie empirisch recht haben: Die Generation, die in den 1940er und 1950er Jahren geboren ist, hat vergleichsweise viel CO2-Emissionen verursacht.

Alt gegen Jung, arm gegen reich, Vegan gegen Fleischfresser, Ost gegen West, links gegen rechts – die Liste lässt sich fortführen. Was sich herauskristallisiert sind verhärtete Fronten, die einen sinnvollen Diskurs nicht zulassen. Dies hat auch gesellschaftspolitische Folgen. Ist es nicht auffällig, dass rechtspopulistische Positionen häufig den Fleischkonsum, das private Feuerwerk befürworten und Tempolimit und Kritik an der älteren Generation verurteilen? Dem „links-grün versiffte Mainstream“ wird die „wahre Mehrheitsmeinung des Volkes“ entgegengesetzt, wird skandiert – ob man sich dabei an Fakten hält, ist zweitrangig. Allein aus diesem Grund ist es wichtig, gegen diese vermeintliche Spaltung des Landes anzukämpfen.

Die Philosophie bleibt in den meisten Fällen stumm und scheint sich in ihrem Elfenbeinturm zu verstecken, obwohl Fragen der Nachhaltigkeit und Ethik, Freiheit und Verantwortung sowie Generationengerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit Themen sind, mit denen sich zahlreiche Philosoph*innen in der akademischen Philosophie auseinandersetzen. Dass erstens eine vegane Ernährung oder zumindest eingeschränkter Fleischkonsum zu einer nachhaltigen Lebensweise dazugehört scheint wissenschaftlicher Konsens zu sein. Die industrielle Fleischherstellung ist sowohl unter tierethischen als auch unter nachhaltigkeitsrelevanten Gesichtspunkten ein kritikwürdiges Unterfangen. Eine normative Aufbereitung bzw. Beurteilung dieser Forschungsergebnisse ist jedoch rar. Auch das Tempolimit wird zweitens viel zu selten mit Hilfe belastbarer ethischer Argumente diskutiert. Wie Demokratie funktionieren kann, welche Aspekte des Lebens politisch reguliert werden sollten und welche Wirtschaftsform dem Gemeinwohl am zuträglichsten ist wird auch in der politischen Philosophie und in der Wirtschafts- und Unternehmensethik auf wissenschaftlichen Bühnen diskutiert. Außer einigen wenigen Kolumnen werden diese Themen, die die Menschen offensichtlich umtreiben, nicht von professionellen Philosophen und Ethikern besprochen und argumentativ zugänglich gemacht. Zuletzt blieb auch die Diskussion um die Umweltsau von populistischen Argumenten beider Seiten geprägt. Die Wissenschaft hat es einerseits versäumt, verständlich zu zeigen, dass Vorgängergenerationen seit der Industrialisierung relativ viele CO2-Emissionen ausgestoßen haben. Andererseits hat auch die Philosophie zu selten das Ignoranz-Argument in die öffentliche Diskussion eingebracht. Schließlich wussten diese Menschen noch nichts vom menschengemachten Klimawandel und haben seit der Industrialisierung ihren wirtschaftlichen Fortschritt angetrieben, ohne von den externen Effekten zu wissen. Sie sind daher nicht (unbedingt) moralisch zu tadeln – etwas tun sollten sie trotzdem.

Ganz abgesehen von der inhaltlichen Positionierung sollte die Philosophie die Art und Weise, wie wir diskutieren, unterstützen. Solange Fake News, unbegründete Elitenkritik, Wissenschaftsskepsis, Klimawandelleugnung u.v.m. salonfähig sind, müssen vor allem die Grundsätze, die insbesondere von der Diskursethik entwickelt worden sind, wieder gestärkt werden. Wie führe ich eine sinnvolle Diskussion? Worauf muss ich achten? Was muss ich respektieren? Man sollte sich z. B. darum bemühen, ideale Sprechsituationen und Kommunikationsbedingungen zu schaffen (hier sind auch Betreiber sozialer Plattformen gefragt), sich auf vernünftige Argumente einzulassen und logisch-semantische Regeln einzuhalten. Jürgen Habermas fordert daher für die Geltung von Argumenten idealerweise Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Auch in diesem Aspekt würde ich mir eine stärkere philosophische Vertretung wünschen.

Man kann sein Verhalten nicht um 180 Grad ändern. Das sollte eine praktisch orientierte Ethik meines Erachtens auch gar nicht fordern. Auf einen bewussten Fleischkonsum mit günstigen (und leckeren) vegetarischen und veganen Alternativen könnten sich Veganer*innen und Fleischfans als Kompromiss bestimmt einigen. Vielleicht verständigt man sich ebenfalls darauf, nur noch professionell veranstaltete Feuerwerke zu besuchen und auf das private Geböller zu verzichten. Das Tempolimit könnte man wiederum auf 150 km/h hochsetzen. Verständnis für eine Generationengerechtigkeit erreicht man, indem man die notwendigen Verhaltensänderungen erläutert und Menschen dabei unterstützt. Anstatt ältere Generationen zu diffamieren, sollte man diesen Personen lieber helfen, Teil dieser nachhaltigen Entwicklung zu werden – in einer Art, die sozial verträglich ist. Und zu guter Letzt sollte man Regeln sinnvoller Diskurse einhalten.

Jeder kann seinen Beitrag für eine nachhaltigere Welt mit moralisch besseren Zuständen leisten! Wir von der Jungen Akademie wollen mit euch ins Gespräch kommen und solche und ähnliche Fragen diskutieren. Dabei wollen wir kontroverse Meinungen hören, Argumente und Prämissen kritisch hinterfragen, ins Gespräch kommen und eventuell sinnvolle Kompromisse erreichen.

In diesem Sinne wünsche ich euch allen ein frohes neues Jahr 2020.

Euer Sebastian