Zum Inhalt springen

Brasilien Januar 2017

"The cities of the world are calling to me and I want to live them all, I want to leave tiny little pieces of me all over the world. A citizen of nowhere, but belonging everywhere"

Brasilien - Venezuela - Kolumbien - Peru - Brasilien - Ägypten - Libanon - Israel - Jordanien - Iran - Afghanistan - Pakistan - Irak - Türkei

So sah die ursprüngliche Planung für das Jahr nach meinem Abi aus. Eine Weltreise, 13 Länder, 11 Monate, neue Kulturen und Sprachen, unzählige Abenteuer - ein Jahr ‘university of life’ bevor ich mich in den deutschen Unialltag stürze. Nach zwei Jahren sehnlichstem Warten auf den Schulabschluss und gefühlt wöchentlichen Änderungen der Reiseroute bin ich Anfang Oktober endlich in den Flieger nach Rio gestiegen. Seitdem ist einiges passiert...

Brasilien hat sich nach meinem fünfmonatigen Schüleraustausch und zwei weiteren Besuchen zu meiner zweiten Heimat entwickelt. Ich habe hier eine Familie: Eltern, zwei Brüder und meine beste Freundin/Schwester, bei denen ich wohne und wie eine zweite Tochter behandelt werde. Ich liebe Brasilien, die Menschen, die Leichtigkeit, die Freude, die Warmherzigkeit, die Landschaft, das Wetter, das Essen, die Strände, die Sprache, die Unperfektheit - die Liste ist endlos.

Und obwohl ich Brasilien liebe, so stößt mich die Gesellschaft hier doch oft vor den Kopf. Meine Familie, Freunde und Bekannte gehören alle der oberen Mittelschicht bis mittleren Oberschicht Brasiliens an, haben schöne Häuser in guten Vierteln, Autos, Hausmädchen und ein sehr gutes Leben. Ich bin hier Teil diesen sorglosen Lebens, entspanne mit Freunden im Country Club, gehe jedes Wochenende auf Parties, unter der Woche in Restaurants und lasse mich von unseren Hausmädchen (ja, Plural...) umsorgen. Dieser Lebensstil steigt einem leicht zu Kopf und bisweilen verliert man sich darin. In solchen Momenten öffne ich meine Spiegel Online und Al Jazeera Nachrichten Apps auf dem Handy nicht mehr so oft, nehme unsere Hausmädchen für selbstverständlich, vergesse, dass ich in einem Land mit einem Gini-Koeffizienten von 0,51 lebe, in dem 10% aller Morde weltweit geschehen.

Nichtsdestotrotz überwiegen die Momente des absoluten Bewusstseins. Zu groß sind die Unterschiede zwischen arm und reich. Als ich das erste Mal nach Brasilien kam, versuchte ich noch mit meinen Freunden darüber zu sprechen, herauszufinden, wieso denn niemand in meinem Umfeld etwas unternahm. So wirklich reden wollte darüber niemand und ich verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte dieses Leid denn so einfach an ihnen vorbeiziehen. Inzwischen verstehe ich es ein bisschen besser, was Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland so oft vorgeworfen wird ist hier in vollem Maße erkennbar: Politikverdrossenheit. Gezeichnet von einer politischen Enttäuschung nach der anderen, der Erkenntnis, dass man ja eh nichts machen könne haben viele hier aufgegeben. Oft bekomme ich auch zu hören, dass die Leute in den Favelas ja gar keine Hilfe wollen und es Statistiken gebe, die besagen, dass sie genau dort bleiben wollen, wo sie sind.

Nach diesem Schlag vor den Kopf habe ich mich auf die Suche nach Menschen gemacht, die helfen und sich für ihre Mitbürger einsetzen. Im Zuge dieser Suche bin ich auf eine Bekannte gestoßen, die ‘Cestas basicas’ aus Spenden, die ihre Kirche erhält, ausliefert.

Eine ‘Cesta basica’, was übersetzt so viel wie ‚Basiskorb‘ heißt, bezeichnet in Brasilien eine von der Regierung, genauer gesagt dem brasilianischen Pendant zum statistischen Bundesamt*, ausgeschriebene Menge an Grundnahrungsmitteln, die eine Familie für einen Monat braucht. Die Regierung erstellt damit Übersichten über das Preisniveau der Produkte, den Preis als prozentualen Anteil am gesetzlich festgelegten Mindestlohn und die Anzahl an Arbeitsstunden, die im Schnitt aufzubringen sind um die enthaltenen Lebensmittel zu erwerben. Diese Lebensmittel sind, wie in einem Dekret aus dem Jahre 1938 festgelegt, in je nach Region verschiedenen Mengen, der folgenden Produkte: Fleisch (6 kg), Milch (15 l), Bohnen (4,5 kg), Reis (3 kg), Mehl (1,5 kg), Kartoffeln (6 kg), Brot (6 kg), Kaffee (600 gr), Früchte (90 Einh., Bananen), Gemüse (9 kg, Tomaten), Zucker (3 kg), Öl (1,5 kg) und Butter (900 g).

Im alltäglichen Leben Brasiliens hat sich diese ‘Cesta basica’, in einer von der festgelegten Zusammensetzung der Regierung etwas abweichenden Form, als Standardmaß für Spenden entwickelt. So gibt es Geschäfte die verschiedene fertige ‘Cestas basicas’ verkaufen und bei Organisationen werden Einzelspenden zu kleineren oder größeren ‘Cestas’ zusammengepackt. Enthalten sind immer Reis, Zucker, Öl, Bohnen und Mehl. Dazu kommen je nach Ausführung die restlichen der in der nationalen 'Cesta' enthaltenen Produkte, Schokolade und Süßigkeiten, andere Milchprodukte oder auch Hygieneartikel.

Mit Chris und Vita machte ich mich also an einem Samstagmorgen auf den Weg, die von der Kirche gepackten ‘Cestas’ an benachteiligte Familien zu verteilen. In der Kleinstadt, in der ich zurzeit bin, gibt es keine richtigen Favelas, sagte man mir, nur ärmere Viertel.

Ich habe trotz der langen Zeit, die ich in Brasilien bin, noch nie eine Favela betreten. Interessieren würde es mich sehr, aber auf eigene Faust wäre das zu gefährlich und geführte Favela Touren halte ich für eine grausame Erfindung - Wie es sich wohl anfühlt von reichen Ausländern, die noch eine gute Story aufgabeln wollen, scheinheilig angestarrt zu werden? Mit Krokodilstränen und Mitleid in den Augen aber gleichzeitig eine reißerische Neugier zeigend durch das Privatleben streunend - wie Zoobesucher? Nachdem ich gesehen habe wie die Familien in den ärmeren Vierteln leben, scheint es mir unmöglich, sich auch nur annähernd vorzustellen, wie Familien in den Favelas leben oder überleben.

Die Familien, an die wir ‘Cestas’ lieferten waren alle groß, drei Kinder waren das Minimum und auch eher eine Ausnahme. Viel öfter sah ich Familien mit fünf oder sechs Kindern. Alle hatte ein kleines Haus. Vermutlich 40 oder 50 Quadratmeter, zwei bis drei Räume maximal. Sie waren unglaublich herzlich und sehr erleichtert uns zu sehen. Schicksalsschläge haben dazu geführt, dass die Ehemänner und älteren Kinder arbeitslos sind oder in inoffiziellen Berufen arbeiten und somit sogar den fast schon lächerlich geringen gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 880 $R (260 €) pro Monat noch um einiges unterschreiten. Im Schnitt hatten die Familien pro Monat etwa 300 $R zur Verfügung, weniger als 100 €. Eine ‘Cesta basica nacional’, also das von der Regierung angegebene Maß, hat derzeit einen Gegenwert von etwa 400 $R. Der Jahresreport 2016 des Statistikamts kommt in seiner Analyse zu dem Schluss, dass der gesetzliche Mindestlohn 4,38x höher sein müsste, um auszureichen. Eine Familie, mit einem Monatseinkommen von 300 $R, hat also weniger als ein Zehntel des eigentlich Benötigten. Dementsprechend erleichtert wurden wir begrüßt als wir ‘cestas’ auslieferten.

Sobald wir bei einer in unserem System registrierten Familie ankamen öffneten sich auch die Türen der Nachbarn und es wurde schüchtern gefragt, ob wir ‘cestas’ ausliefern würden und ob wir wohl noch welche übrig hätten. Es war herzzerreißend, immer wieder zurückweisen zu müssen und diese doch simple Bitte nach einfachen Grundnahrungsmitteln abzuschlagen. Die These, dass Hilfe nicht willkommen sei, war damit eindeutig widerlegt.
Brasilien ist ein Land der Gegensätze - ein Land voller Herzlichkeit und gekonntem Wegschauen, voller Lebensfreude und Gewalt, voller Vielfalt und Segregation. Aber vor allem ist Brasilien ein Land, das nicht aufgibt, in dem trotz Politikverdrossenheit an den Unis demonstriert wird, in dem der Mindestlohn, auch wenn er noch viel zu niedrig ist, stetig steigt (2017 auf 937,00 $R). Brasilien ist vermutlich die Bilderbuchdarstellung eines Schwellenlandes, gefangen zwischen fortschrittlicher Infrastruktur und sozialen Problemen.

Als nächstes dürft Ihr euch auf einige wirklich abenteuerliche Geschichten aus Venezuela freuen. Bis dahin wünsche ich euch einen guten Start in Uni, Schule oder Arbeit; dass ihr euch über die kleinen und großen Annehmlichkeiten bewusst werdet die Ihr jeden Tag genießen dürft und nicht allzu kalte Tage! ;-)

Um euch ein bisschen brasilianische Wärme zu bringen habe ich euch zu DEM Sommerhit 2016/2017 Brasiliens verlinkt!

Eure Anna